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Predigt zu Karfreitag

von Pfarrer Markus Fiedler

Schwestern und Brüder,

wir Menschen sind Weltmeister im Verdrängen. Vielleicht ist das Verdrängen von unangenehmen Dingen und Nachrichten sogar wichtig für das Überleben. Wer alles Leid, allen Schmerz, alles Grausame zu nah an sich heranlässt, steht tatsächlich in der Gefahr, zu verzweifeln. Diese Woche habe ich im Kino einen Film gesehen, der das Verdrängen auf die Spitze getrieben hat. In dem Streifen The Zone of Interest von Jonathan Glazer wird das Leben des Auschwitzer Lagerkommandanten Rudolf Höß und seiner Familie gezeigt. Die Familie hat sich ein kleines Paradies geschaffen – direkt an der Lagermauer des KZ. Es fehlt an nichts: Neben dem großzügigen Herrenhaus gibt es einen gewaltigen Nutz- und Freizeitgarten. Sogar ein Schwimmbecken für die fünf Kinder ist da. Bedienstete aus dem Dorf kümmern sich um alles, sodass gerade Frau Hedwig Höß das Leben wirklich genießen kann. Jeden Morgen geht Rudolf Höß zur „Arbeit“ und hat dann Feierabend in der Idylle. Obwohl das Vernichtungslager Auschwitz kein einziges Mal im Bild gezeigt wird, ist es doch ständig präsent: Auf der Tonspur des Filmes hören wir das tägliche Grauen: Hundebellen, Schüsse, ein- und ausfahrende Züge, Schreie und Gebrüll. Und nachts erhellt das Feuer der Öfen, in denen die Ermordeten verbrannt werden, die Dunkelheit. Es geht hier nicht nur um die Banalität des Bösen, die Hannah Arendt bei vielen Nazi-Größen entdeckt hat. Es geht um die Kraft der Verdrängung. Nur ein paarmal im Film reißt die Fassade der Idylle: Einmal, als Hedwig Höß´ Mutter einen Besuch bei ihr abbricht, da ihr das Hintergrundgeräusch zu viel wird. Und einmal, als Rudolf Höß beim Schwimmen im nahegelegenen Fluss plötzlich einen menschlichen Unterkiefer in Händen hält, die Kinder dann panisch aus dem Wasser scheucht und zuhause porentief schrubben lässt. Überhaupt: Rudolf Höss ist im Film immer strahlend weiß gekleidet, und zuhause ist wirklich alles makellos.

Beim Schauen des Filmes dachte ich mir: Da ist Jonathan Glazer ein unwahrscheinlich aktuelles Werk geglückt. Ist es nicht so, dass uns der Schmerz dieser Erde erst dann richtig nahe geht, wenn er aus der Anonymität heraustritt und konkret wird, einen Namen bekommt?

Der Karfreitag heute konfrontiert schonungslos, indem die Liturgie einen Leidenden, den Schmerzensmann in die Mitte stellt. Das ist nicht schön. Das ist schockierend. Das ist der Blick hinter die Fassade des Grauens. Das Grauen wird offengelegt, damit es nicht im Geheimen weiterwirken kann. Die für mich schockierendste Szene in The Zone of Interest ist für mich der Abend, an dem ein Sohn von Höß unter der Bettdecke mit Goldzähnen ermordeter Juden spielt wie andere mit Legosteinen oder Playmobilfiguren. Da ist dieses Ausblenden von Wirklichkeit schon ganz tief eingesickert in ein noch junges Leben. Der Karfreitag ruft uns zu: Schau hin, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird wie bei Jesus. Schau hin, wo das, was alle tun, zum Maßstab für richtig und falsch wird, wie bei Jesus: Mitbrüllen mit der Masse. Schau hin, wo Menschen gegeneinander ausgespielt werden, wo Spielchen gemacht werden, wie beim Prozess Jesu. Schau hin, wo schön klingende Begriffe die grausame Wirklichkeit verbergen oder gar ins Gegenteil verkehren und Menschen zu Nummern werden. Am gekreuzigten Jesus tobt sich das Böse aus. Aber gegen Jesu Liebe hat es verloren.

Schwestern und Brüder,

und dann gab es im Grauen von Auschwitz auch Hoffnungsschimmer: Unter Lebensgefahr verteilt im Film ein polnisches Hausmädchen der Familie Höß Brot an die Arbeitsstätten von KZ-Häftlingen. Sie, die im ganzen Film kein Wort sagt, wird zu einem Bild für Menschlichkeit. Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus hat der Jude Marcel Reif im Januar eine bemerkenswerte Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Er hat uns das Destillat dessen mitgegeben, was sein Vater ihm als Richtschnur für das Leben gegeben hat: „Sej a Mensch!“ – „Sei ein Mensch!“ Ich möchte für uns hinzufügen: Schau auf das Kreuz. Es macht immun gegen die Lüge, gegen den Hass, gegen den Tod. Amen